«Viele Migrantinnen und Migranten kennen aus ihren Herkunftsländern keine vergleichbare berufliche Ausbildung»

Aarusza Ramachandran arbeitet als Junior Projektleiterin bei der eduxept AG und als interkulturelle Dolmetscherin beim Hilfswerk der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (HEKS). Ihr ist es wichtig, tamilischen Familien das Schweizer Bildungssystem näher zu bringen. Im Interview spricht sie darüber, weshalb viele Menschen mit Migrationshintergrund Probleme haben, sich mit der Berufsbildung vertraut zu machen und wie das Berufsbildungssystem in der tamilischen Diaspora vermittelt wird.

Frau Ramachandran, woher stammt Ihre Begeisterung für die Berufsbildung?
Ich selbst habe keine Lehre gemacht, sondern den gymnasialen Weg eingeschlagen. Mit der Berufsbildung kam ich erst während meinem Studium in Erziehungswissenschaften und Psychologie in Berührung. Und dort entdeckte ich meine Leidenschaft für die Verbindung von Theorie und Praxis in der Ausbildung.

Was fasziniert Sie daran?
In fast keinem anderen Land ist die Berufsbildung so stark ausgeprägt wie in der Schweiz: Zwei Drittel der Jugendlichen schliessen eine berufliche Grundbildung ab. Die Berufsbildung stellt somit einen wichtigen Faktor bei der Deckung des Fachkräftebedarfs dar. Allerdings ist es wichtig, die Stärke dieses Systems zu kommunizieren und zu vermitteln, insbesondere Menschen mit Migrationshintergrund.

Inwiefern?
Viele kennen aus ihren Herkunftsländern keine vergleichbare berufliche Ausbildung. Deshalb fällt es Migrantinnen und Migranten schwer, sich mit einem Bildungssystem vertraut zu machen, in welchem die Berufsbildung einen so hohen Stellenwert geniesst. Dabei ermöglicht ihnen die Berufsbildung einen anerkannten Abschluss mit Kompetenzen, die auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt sind. So trägt der Abschluss zu einer gesicherten Zukunft bei. Zudem erleichtert eine Ausbildung die gesellschaftliche Integration. Um diese Vorteile zu vermitteln und Verständnis für das Schweizer Bildungssystem zu schaffen, ist eine umfassende und sensible Kommunikation unerlässlich. Rein schriftliche Informationen genügen nicht. Es ist wichtig, einen Dialog zu schaffen und frühzeitig Raum für Fragen zu öffnen.

Wie schaffen Sie als interkulturelle Dolmetscherin einen solchen Dialog und wie läuft er ab?
Interkulturelle Dolmetscherinnen und Dolmetscher unterstützen die Kommunikation zwischen Fachpersonen – wie Ärztinnen und Ärzten oder Lehrpersonen – und fremdsprachigen Menschen. Als interkulturelle Dolmetscherin verpflichte ich mich, ausschliesslich das Gesprochene des Auftraggebenden und der anwesenden Klienten zu übersetzen. Während dem Dolmetschen merkt man schnell, wenn etwas auf beiden Seiten missverstanden wird. In solchen Fällen frage ich bewusst nach, ob ich meine Einsicht und mein Wissen ergänzend einbringen darf. Hier kann ich mit meinem Wissen zum Schweizer Bildungssystem eingreifen und nicht nur sprachliches, sondern auch interkulturelles Wissen vermitteln. Der Dialog findet aber nicht nur im professionellen Umfeld statt. Oft sind es auch Gespräche im privaten Umfeld.

Auch Ihre Eltern sind einst in die Schweiz eingewandert. Welche Erfahrungen haben Sie im Zusammenhang mit Bildung gemacht?
Als Tochter von tamilischen Geflüchteten lernte ich früh die hohe Bedeutung der Bildung in der tamilischen Kultur kennen. Die Berufsbildung war zwar in meinem Umfeld bekannt, aber hatte niemals den gleichen Stellenwert wie der akademische Weg. Deshalb setze ich mich heute sowohl beruflich als auch privat dafür ein, tamilischen Familien die Chancen und Perspektiven der Berufsbildung zu vermitteln. Diese Aufgabe ist wichtig. Denn die tamilische Diaspora besteht in der Schweiz aus rund 60'000 Personen.

Weshalb hat der akademische Weg für tamilische Eltern eine so zentrale Bedeutung?
Das ist historisch so gewachsen. Die ersten Tamilinnen und Tamilen flohen aufgrund der anti-tamilischen Pogrome im Jahr 1983 in die Schweiz. In Sri Lanka erlebten sie Diskriminierung aufgrund ihrer Ethnie und Religion. Sie sahen die akademische Bildung als Weg zum gesellschaftlichen Aufstieg. Und diese Einstellung haben sie in die Schweiz mitgebracht, wo sie nun auf ein Bildungssystem treffen, das neben dem akademischen auch den berufsbildenden Weg vorsieht. Hier liegt eine wichtige Aufgabe im interkulturellen Dialog, um die Vorteile und Möglichkeiten der Bildungswege in der Schweiz aufzuzeigen.

Es muss eine grosse Herausforderung sein, Leuten die Vorteile der Berufsbildung zu vermitteln, wenn es im Herkunftsland kein Berufsbildungssystem gibt. Wie erreichen Sie, dass die Leute nachhaltig von diesem System überzeugt sind?
Es braucht viele Gespräche, um vor allem die Erstgeneration zu erreichen. Spannend ist es, wenn wir als verschiedene Menschen aus der zweiten und dritten Generation zusammenkommen, unsere individuellen Werdegänge aufzeigen und von den Erfahrungen in der Schweiz erzählen können. Andererseits ist es sehr unterstützend, wenn auch Arbeitgebende die Möglichkeiten für Menschen mit Migrationshintergrund erhöhen und den Einstieg in den Arbeitsmarkt niederschwellig halten.

Wie können sich tamilische Familien sonst noch über das Bildungssystem informieren?
Es gibt diverse Fachstellen für Integration, bei denen sie sich informieren können und wo sie Informationsbroschüren auf Tamilisch zum Bildungssystem erhalten. Vor ein paar Jahren durfte ich mit dem TaVS (Tamilischer Verein der Studierenden) das Jahresprojekt «kalvi.ch» ins Leben rufen, in dem wir Informationsveranstaltungen durchführten und eine Broschüre auf Tamilisch zum Bildungssystem veröffentlichten. In dieser Broschüre wurden auf Tamilisch die verschiedenen Bildungswege veranschaulicht, die in der Schweiz möglich sind. So kann vermittelt werden, dass ein Berufsbildungsabschluss die Türen zu einer Vielzahl an Karrieremöglichkeiten öffnet.

Hinweis: Auf berufsberatung.ch werden umfassende Informationen zum Schweizer Bildungssystem in diversen Sprachen bereitgestellt.