«Die Möglichkeiten im tertiären Bildungsbereich hängen nicht vom Bildungsweg nach der obligatorischen Schulzeit ab»
Als Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung und als Professor für Bildungsökonomie an der Universität Bern erforscht Stefan Wolter verschiedene Facetten des Bildungssystems. Im Interview spricht der Bildungsexperte über den Wandel der Berufsbildung, die Auswirkungen von künstlicher Intelligenz auf die Berufswahl von Jugendlichen und den Einfluss der Eltern auf die Geschlechterrollen in der Arbeitswelt.

Im September 2024 fanden in Lyon die WorldSkills statt, an denen sich junge Berufsleute aus verschiedenen Ländern miteinander gemessen haben. Das Schweizer Team hat dabei insgesamt 15 Medaillen geholt. Was sagt dieser Erfolg über die Qualität der Schweizer Berufsbildung aus?
Für die Schweizer Berufsbildung sind diese Erfolge sicherlich eine Bestätigung, dass sie Exzellenz hervorbringt. Für ein Land, in dem die Mehrheit der Jugendlichen mit einer Berufslehre in die nachobligatorische Bildung einsteigt, ist dies besonders wichtig. Wir dürfen nicht vergessen, dass sich die Schweizer Teilnehmenden an solchen Wettbewerben auch mit Konkurrentinnen und Konkurrenten messen müssen, die praktisch keine Berufsbildung kennen und nur mit speziell für diesen Wettbewerb ausgebildeten Personen antreten.
Welchen Einfluss haben medienwirksame Berufswettbewerbe wie die WorldSkills auf die Berufswahl junger Menschen?
Wir konnten diese Frage kürzlich wissenschaftlich untersuchen und zeigen, dass der Gewinn einer Goldmedaille das Interesse an dem ausgezeichneten Beruf signifikant steigern kann. Dies ist eine besonders interessante und wichtige Erkenntnis, da viele Medaillen in Berufen gewonnen werden, die vorher nicht zu den beliebtesten oder bekanntesten Berufen gehörten. Das bedeutet zum einen, dass solche Erfolge ein wirksames Instrument sind, um solche Berufe sichtbar zu machen. Zum anderen aber auch, dass Jugendliche, die in diesem Alter immer auf der Suche nach Vorbildern sind, in den Siegerinnen und Siegern von Berufsmeisterschaften solche Vorbilder finden. Die gute Botschaft aus dieser Forschung ist also, dass beruflicher Erfolg auch bei der heutigen Jugend zieht.
Sie sind seit 2006 federführend bei der Erarbeitung des Bildungsberichtes, der alle vier Jahre erscheint und das Schweizer Bildungssystem unter die Lupe nimmt. Wie hat sich die Berufsbildung in dieser Zeit verändert?
Mit dem Bildungsbericht analysieren wir Makrotendenzen, wie die Verschiebungen zwischen den Bildungstypen Gymnasium, Fachmittelschule und berufliche Grundbildung oder beispielsweise den Trend zu mehr tertiärer Bildung, insbesondere bei Personen, die zuvor eine Berufslehre absolviert haben. Dies ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Denn die Berufsbildung befindet sich in einem permanenten Wandel, wenn man sich die hohe Reformdichte in den einzelnen Berufsbildern anschaut. Auch wenn solche Reformen von den Beteiligten immer viel abverlangen, zeigen sie doch, dass sich die Berufsbildung nicht auf ihren Lorbeeren ausruht.
Gesellschaftliche oder technische Entwicklungen verändern die Arbeitswelt laufend. Aktuell sorgen künstliche Intelligenzen für viel Aufsehen. Welche Auswirkungen wird künstliche Intelligenz auf die Berufsbildung und auf die Berufswahl junger Menschen haben?
Es ist unmöglich hier eine abschliessende Antwort zu geben, da diese Entwicklungen derzeit in einem noch nie dagewesenen Tempo voranschreiten. Wer hätte im Sommer 2022, wenige Wochen vor der Lancierung von ChatGPT, gedacht, dass ein Jahr später mehr als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II wöchentlich in der Schule mit künstlicher Intelligenz arbeiten würden? Wir konnten jedoch messen, dass diese Instrumente der künstlichen Intelligenz bei den Jugendlichen – und nicht nur bei ihnen – eine grosse Verunsicherung auslösten und sie sich instinktiv eher für handwerkliche Berufe interessierten, die von der künstlichen Intelligenz weniger bedroht sind.
Die Berufswelt befindet sich auch hinsichtlich der Geschlechterrollen im Wandel. Heute wird immer wieder versucht, Jugendlichen Berufe schmackhaft zu machen, die eher mit dem anderen Geschlecht in Verbindung gebracht werden (zum Beispiel am Nationalen Zukunftstag). Wie erfolgreich sind diese Bemühungen?
Diese Frage kann nicht pauschal beantwortet werden, da die einzelnen Massnahmen selten wissenschaftlich evaluiert werden. Betrachtet man die tatsächlichen Entscheidungen der Jugendlichen, so zeigt sich, dass die Berufswahl in den letzten fünfzehn Jahren nur marginal weniger geschlechtsspezifisch geworden ist. Mit Ausnahme der kaufmännischen Grundbildung finden sich unter den am häufigsten gewählten Lehrberufen sowohl bei den jungen Männern als auch bei den jungen Frauen nach wie vor mehrheitlich geschlechtsstereotype Berufe. Dies bedeutet jedoch nicht automatisch, dass alle Initiativen wirkungslos waren, da wir nicht wissen können, wie die Berufswahl heute aussähe, wenn nichts unternommen worden wäre.
Welchen Einfluss haben Eltern auf die geschlechtsspezifische Berufswahl ihrer Kinder?
Die Eltern haben nach wie vor einen sehr grossen Einfluss auf die Berufswahl der Jugendlichen, wie zum Beispiel die Antworten der Jugendlichen im jährlichen Nahtstellenbarometer des SBFI zeigen. Kürzlich sind wir der Frage nachgegangen, ob Eltern ihre Kinder in geschlechterstereotype Berufe drängen. Das Ergebnis unserer Forschung ist, dass sowohl Väter als auch Mütter bei der Berufswahl ihrer Töchter sehr offen sind und keine Tendenz zu geschlechtsspezifischen Berufen zeigen. Bei den Söhnen ist das anders: Väter und Mütter tendieren stark dazu, ihnen zu Berufen zu raten, die eher von Männern gewählt werden.
Nach dem Abschluss einer beruflichen Grundbildung stehen in der Schweiz sämtliche Türen zu weiterführenden Bildungsangeboten offen. Trotzdem glauben viele Eltern, dass ihre Kinder nur auf dem akademischen Weg Karriere machen können. Was würden Sie diesen Eltern sagen, um ihnen die Berufsbildung schmackhaft zu machen?
Solche Eltern gibt es leider immer noch, obwohl die Durchlässigkeit unseres Bildungssystems nicht nur auf dem Papier steht, sondern Realität ist. Die Möglichkeiten junger Menschen im tertiären Bildungsbereich hängen einzig und allein von ihrem Talent und ihrer Motivation ab und nicht davon, welchen Bildungsweg sie nach der obligatorischen Schulzeit gewählt haben. Ich begegne in meinem Berufsalltag als Direktor, aber auch als Professor immer wieder beruflich und akademisch erfolgreichen Kolleginnen und Kollegen, die mit einer Berufslehre ins Erwerbsleben gestartet sind.