Ich habe viel investiert, das hat sich gelohnt: Heute trage ich Verantwortung

Im Alter von 42 Jahren schloss sie ihr erstes eidgenössisches Fähigkeitszeugnis (EFZ) als Gebäudereinigerin ab. Ein Jahr später leitet Maria Alice Dias dos Santos rund 35 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in rund 25 Gebäuden im Verwaltungsvermögen der Stadt Lausanne und bildet selber junge Lernende aus. In unserem Gespräch erzählt uns Frau Dias dos Santos, wie sie es so weit gebracht hat.

Sie sind eher langsam gestartet, haben dann stetig zugelegt und sind mittlerweile mit Vollgas auf dem Karriereweg unterwegs. Können Sie uns Ihren Werdegang beschreiben?
Nach der obligatorischen Schule in Portugal konnte ich nicht weiter zur Schule und musste arbeiten gehen. Mit 22 Jahren habe ich mein Heimatland verlassen und bin meinem Mann nach Lausanne gefolgt. Danach habe ich mich meiner Familie gewidmet und dabei immer 100% gearbeitet. Als die Kinder klein waren, kam eine Ausbildung nicht infrage. Als sie dann grösser und etwas selbstständiger wurden, konnte ich mich etwas mehr mir widmen und mich mit meinen Wünschen und damit dem Gedanken einer Ausbildung auseinandersetzen.

Wie haben Sie von der Möglichkeit erfahren, mit 40 Jahren eine berufliche Grundbildung zu absolvieren?
Ich habe mich selber informiert und bei meinen Kolleginnen und Kollegen erkundigt.

Was war Ihr Hauptantrieb, diesen Berufsabschluss zu erwerben?
Für eine Ausbildung gibt es mehrere Gründe. Sicherlich Neugier, aber auch das Streben nach mehr Verantwortung. Man weiss, dass man bei der Arbeit dann mehr geschätzt wird. Wie alle hatte auch ich dieses Bedürfnis nach Anerkennung. Zudem hat natürlich der finanzielle Aspekt eine Rolle gespielt. Die Entlöhnung ist auch eine Art der Anerkennung. Letztlich hat mich auch ein gesunder Ehrgeiz angetrieben.

Ohne eine Lehre abgeschlossen zu haben, bereiteten Sie sich berufsbegleitend auf die Prüfung zur Gebäudereinigerin EFZ vor. Wie bringt man Arbeit, Ausbildung und Familie unter einen Hut?
Es ist alles eine Frage der Organisation. Wenn man eine Familie hat, muss man auf ein solidarisches Team zählen können. Dies war bei mir glücklicherweise der Fall. Ich ging zwei Abende pro Woche zur Schule und lernte an den Samstagen, manchmal am Sonntag und an Feiertagen, ganz zu schweigen von den Ferien. Mein Mann Joaquim war genial und hat mich immer unterstützt. Ohne ihn hätte ich es nicht geschafft, ich bin ihm extrem dankbar.

Wie lange dauerte Ihre Ausbildung?
Zwei Jahre. Es war zwar eine anstrengende, aber auch eine schöne Zeit. Ich lerne sehr gerne und habe verständnisvolle und kompetente Lehrpersonen gehabt. Ausserdem habe ich andere Lernende kennengelernt, die in der gleichen Situation waren wie ich, und wir haben uns gegenseitig motiviert.

Haben Sie Ihren Arbeitgeber um eine finanzielle Unterstützung für Ihre Ausbildung gebeten?
Nein, ich habe nicht gefragt. Ich wollte den Druck vermeiden, den eine solche Anfrage erzeugt hätte. Da ich die Ausbildung berufsbegleitend absolviert habe, habe ich während der ganzen Ausbildungszeit weiter meinen normalen Lohn erhalten. 

Wurden Sie in anderer Form – beispielsweise mit angepassten Arbeitszeiten oder einer zusätzlichen Ferienwoche – unterstützt?
Nein, leider erhielt ich gar nichts. Für praktische Kurstage musste ich Ferientage beziehen. Deshalb hatte ich in diesen zwei Jahren kaum Ferien. Dies war zugegebenermassen schwierig, aber ich bereue nichts.

Inwiefern hat das Berufszertifikat Ihr Leben verändert? 
Ich konnte meine beruflichen Träume verwirklichen. Meine Arbeit ist sehr erfüllend. Ich bin glücklich, dass ich meine Kenntnisse und Erfahrungen nun anderen Lernenden weitergeben kann.

Sie haben erwähnt, dass Sie heute Jugendliche ausbilden, die sich auf eine Berufsprüfung vorbereiten. Wie schafft man es innerhalb von nur zwei Jahren vom Status der Lernenden zum Status der Ausbildnerin?
Nachdem ich mein eidgenössisches Fähigkeitszeugnis erhalten hatte, machte ich eine weitere Ausbildung, um noch den eidgenössisch anerkannten Ausweis für Berufsbildnerinnen und Berufsbildner zu erlangen. Nun kann ich junge Lernende in meinem Beruf ausbilden. Ausserdem wurde ich von der Maison Romande de la Propreté in Eclublens angefragt, der Dachorganisation für den Reinigungslehrgang in der Westschweiz, bei der ich nun als Prüfungsexpertin tätig bin. Ich kann mich gut in die Lernenden einfühlen, da ich vor nur sechs Jahren in ihrer Situation war.

Wie sehen Sie Ihre berufliche Zukunft? 
Ich bin mit meiner jetzigen Arbeit voll und ganz zufrieden und erhalte die nötige Anerkennung. Ich kann mir gut vorstellen, später noch die Prüfung zur Gebäudereinigungs-Fachfrau mit eidgenössischem Fachausweis abzulegen.

Würden Sie anderen empfehlen, Ihrem Beispiel zu folgen?
Absolut, die Schweiz bietet so viele Ausbildungsmöglichkeiten. Man stellt sich viele Fragen: Bin ich gut genug? Reichen meine Französischkenntnisse aus, um eine solche Ausbildung zu bestehen? Meiner Erfahrung nach ist es häufig die Angst vor einem Misserfolg, die uns davon abhält weiterzumachen. Sie ist das grösste Hindernis. Wenn man die Möglichkeit hat, eine berufliche Ausbildung zu absolvieren, sollte man diese nutzen. Sie sehen, auch mit über 40 Jahren kann man noch eine berufliche Karriere starten! Als ich in der Schweiz ankam, hätte ich mir das nicht in meinen kühnsten Träumen vorstellen können. Ich bin diesem Land, das mich aufgenommen hat, sehr dankbar.

Maria Alice Dias dos Santos

Alter: 47

Position:

Gebäudereinigerin EFZ,
Teamleiterin und Ausbildnerin

Voraussetzungen für einen Berufsabschluss im Erwachsenenalter

In der Schweiz gibt es rund 250 verschiedene berufliche Grundbildungen. Auch im Erwachsenenalter können Sie in jedem Beruf ein eidgenössisches Fähigkeitszeugnis (EFZ) oder ein eidgenössisches Berufsattest (EBA) erlangen.

Um einen Berufsabschluss zu erwerben, brauchen Sie folgende Voraussetzungen:

  • Gute Kenntnisse einer Landessprache
  • Gute Grundkompetenzen
  • Motivation und Durchhaltewillen


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